Die Reise des verlorenen Schlüssels
Leise liegt ein kleiner Schlüssel im Gras und beobachtet die vorbeiziehenden Wolken. "Ist das ein Marienkäfer, der gerade über mein Bein läuft?", fragt er sich während er laut lachen muss, weil es so kitzelt. "Wie bin ich nur hierhergekommen?", fragt er sich und erinnert sich an die vielen Male als er die Haustüre seines Besitzers geöffnet hat. Diese große Holztür, die laut knarrte, wenn man sie öffnete.
Der Schlüssel seufzt. "Ich hoffe, jemand findet mich bald", denkt er. Und tatsächlich, kurze Zeit später, kommt ein kleiner Junge vorbei. Er entdeckt den Schlüssel, hebt ihn auf und betrachtet ihn neugierig. "Mama, schau mal, was ich gefunden habe!", ruft er und zeigt seiner Mutter den Fund. "Oh, ein Schlüssel", sagt sie. "Wir sollten ihn ins Fundbüro bringen. Vielleicht vermisst ihn jemand."
Im Fundbüro angekommen, wird der Schlüssel in eine Kiste gelegt, umgeben von anderen verlorenen Dingen. Da gibt es einen bunten Schal, einen einsamen Handschuh und einen alten Geldbeutel. "Hallo", sagt der Schal freundlich. "Was machst du hier?" Der Schlüssel erklärt seine Geschichte und die anderen Gegenstände lauschen gespannt. Die Zeit vergeht und der Schlüssel wartet geduldig.
Eines Morgens fällt ein warmer Sonnenstrahl durchs Fenster des Fundbüros und kitzelt den kleinen Schlüssel an seiner glänzenden Nase. Er reckt sich ein bisschen - soweit ein Schlüssel das eben kann - und seufzt leise. "Noch immer kein Besitzer", murmelt er. Der bunte Schal, der inzwischen etwas verstaubt ist, lächelt ihm tröstend zu. "Geduld, mein Freund. Manchmal muss man erst verloren gehen, um an den richtigen Ort zu kommen."
Der Schlüssel denkt über diese Worte nach. Der richtige Ort... Früher war das die Haustür mit dem knarrenden Holz. Aber vielleicht, denkt er plötzlich, gibt es ja noch andere Türen, die auf ihn warten?
Gerade, als er diesen Gedanken zu Ende denkt, geht die Tür des Fundbüros auf. Eine ältere Frau tritt ein, mit einem Stapel Papiere in der Hand. "Ich habe meinen alten Hausschlüssel verloren", sagt sie zur Mitarbeiterin. "Er ist aus Messing, ein bisschen abgenutzt - aber er hat mir immer Glück gebracht."
Der Schlüssel hält den Atem an - Messing! Abgenutzt! Das klingt doch ganz nach ihm! Die Mitarbeiterin nimmt ihn aus der Kiste und legt ihn in die Handfläche der Frau. Einen Augenblick lang sehen sie sich an - Schlüssel und Besitzerin - und beide spüren ein leises Wiedererkennen.
"Ja! Das ist er!", ruft die Frau und lacht überglücklich. Der Schal winkt ihm mit einer seiner Fransen nach. "Mach's gut, mein Freund. Öffne viele Türen."
Und der Schlüssel klirrt leise zum Abschied, bevor er in die Tasche seiner Besitzerin gleitet. Draußen scheint die Sonne warm, und während sie den Heimweg gehen, denkt der Schlüssel: "Das Schönste am Verlorengehen, so spannend es sein kann, ist, wenn man wiedergefunden wird."
Die Frau spaziert gemütlich nach Hause, den kleinen Schlüssel fest in der Hand. Der Wind spielt mit ihrem grauen Haar, und sie summt leise eine alte Melodie. Als sie dann vor der vertrauten Holztür stehen - der Tür, die so schön knarrt - spürt der Schlüssel ein Kribbeln. Und als sich das Schloss mit einem vertrauten Klick öffnet, weiß der kleine Schlüssel: Manche Türen führen nicht nur in ein Haus - sondern auch nach Hause.