Das Morgenrot ist für alle da

Es war einmal ein kleiner Junge namens Finn. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, stand er auf seinem Balkon und hielt ein altes Marmeladenglas in die Luft. Es war, als ob er versuchen würde, die goldenen Strahlen der Sonne einzufangen, die vom rötlichen Himmel herunterkamen. Finn war überzeugt, dass die Sonnenstrahlen ihm Glück brachten.

Eines Morgens wacht Finn auf und bemerkt, dass es heute gar kein Morgenrot am Himmel gibt. Der Himmel ist nur grau und trist. "Wo ist das Morgenrot geblieben?", fragt er sich und beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Er packt sein Marmeladenglas und macht sich auf den Weg, um das Geheimnis zu lüften.

Unterwegs trifft er auf eine sprechende Elster namens Ella. Ella hat eine Vorliebe für alles, was glitzert. "Hast du das Morgenrot gesehen?", fragt Finn. Ella legt den Kopf schräg und antwortet: "Vielleicht hat es einfach verschlafen?" Finn lacht, aber er weiß, dass er weitersuchen muss. Ella flattert mit den Flügeln. "Ich komme mit dir, vielleicht finde ich unterwegs noch ein paar glitzernde Schätze."

Finn und Ella ziehen weiter, bis sie auf eine alte Eiche stoßen, die klug aussieht. Mit einer tiefen Stimme sagt sie "Ihr sucht das Morgenrot? Habt ihr schon im Himmel geschaut, wo die Sonne wohnt? Vielleicht müsst ihr in die Wolken reisen, um es zu finden." Finn ist überrascht von der Idee, aber er liebt Abenteuer. "Ella, kannst du vielleicht da hochfliegen und nachschauen?", fragt er. Aber Ella erklärt, dass ein Vogel gar nicht bis zu den Wolken fliegen kann, denn die sind zu weit oben in der Luft und ein Vogel kann gar nicht so hoch fliegen. "Wie kommen wir dann in die Wolken?", fragt Finn. Die Eiche raschelt mit ihren Blättern und sagt: "Folgt einfach dem Pfad des Windes."

Finn und Ella folgen dem rauschenden Wind entlang eines schmalen Pfades, der sie zu einem versteckten Garten führt. Dort treffen sie auf eine freundliche Gärtnerin, die den beiden einen magischen Heißluftballon zeigt. "Der Ballon kann euch in die Wolken bringen". Finn und Ella steigen ein, und der Ballon hebt sanft ab. Bäume, Menschen und Tiere unten am Boden werden immer kleiner, je höher sie fliegen.

Oben in den Wolken binden sie den Ballon fest an, steigen aus und schauen sich um. Ringsum breiten sich weiße Wolken wie Watteberge aus. Der Boden unter ihren Füßen fühlt sich federnd weich an, als würden sie über ein Trampolin laufen.

Da entdecken sie einen kleinen, frech aussehenden Mann mit einem Sack aus Leinen. Finn traut sich und fragt: "Hey! Was hast du denn da drin?" Der Mann schaut erschrocken zu ihnen hinüber. "Ähm... na ja...", stottert er und hält den großen braunen Leinensack fest an sich. "Also... ich... ich habe das Morgenrot da drin." Ella kichert leise. "Siehst du, wir haben dich erwischt!" Finn nickt ernst. "Das darfst du nicht! Die ganze Welt ist ohne das Morgenrot traurig und es ist nur so schön, weil es für alle da ist."

Der Mann senkt den Kopf und nickt. "Okay... ihr habt wohl recht. Ich wollte es für mich alleine behalten... aber das war nicht richtig." Er öffnet den Sack, und die roten Strahlen des Morgenrots fliegen sofort wieder hinaus. Zufrieden, dass das Morgenrot wieder frei ist, winken Finn und Ella dem Mann zu und machen sich bereit für ihre Heimreise. Die beiden steigen in den Ballon und lassen den Korb sanft abheben. Die Wolken schweben an ihnen vorbei, während sie langsam Richtung Erde zurückgleiten. Bäume, Menschen und Tiere unten werden immer größer, je näher Sie dem Erdboden kommen.

Zurück auf seinem Balkon hält Finn sein Marmeladenglas hoch und sieht das Licht darin funkeln. "Manchmal braucht es nur ein bisschen Mut, um das Unmögliche möglich zu machen", sagt er selbstsicher zu Ella, die noch immer an seiner Seite ist. Doch dann hält er inne, betrachtet das Glas und lächelt nachdenklich. "Ich muss mir eingestehen... ich habe auch die Sonnenstrahlen eingefangen. Aber sie gehören nicht nur mir – denn sie sind für alle da."

Vorsichtig öffnet Finn das Glas, und lässt die Sonnenstrahlen frei, er möchte sie jetzt nicht mehr einsperren. Das Glück bleibt trotzdem bei ihm.