Der Brunnen und der Wunsch
Jonas ist jemand, der oft in Gedanken versinkt. Er liebt es, allein in der Natur zu sein, den Vögeln zuzuhören und das Rascheln der Blätter im Wind zu hören. Der Wald ist für ihn ein Ort der Ruhe, weit entfernt von den hektischen Geräuschen der Welt. Heute jedoch wandert er mit einem seltsamen Gefühl durch die Bäume, so als ob der Wald selbst ihm eine Geschichte erzählen möchte.
Seine Schritte führen ihn immer tiefer hinein, bis er an einer Lichtung stehen bleibt. Zwischen den Bäumen, versteckt im dichten Efeu, entdeckt er einen alten Brunnen, dessen steiniger Rand von Moos und Ranken überwuchert ist. Die Stille um ihn herum scheint noch intensiver zu werden, als er sich dem Brunnen nähert. Neugierig beugt er sich über den Rand und schaut in das klare Wasser.
Sein Spiegelbild blickt ihm entgegen, fast lebendig im ruhigen Wasser. Dann, ganz leise, steigt ein Flüstern aus der Tiefe empor: "Wünsche dir etwas", scheint es zu sagen. Jonas' Herz schlägt schneller. Für einen Moment bleibt gefühlt die Zeit stehen. Was wird er sich wünschen?
Ohne lange nachzudenken, murmelt er: "Ich wünsche mir, dass es nie wieder Hausaufgaben gibt." Kaum hat er die Worte ausgesprochen, glitzert das Wasser kurz auf und Jonas spürt ein Kribbeln in der Luft. Er schaut sich um, aber es scheint sich nichts verändert zu haben. So zuckt er mit den Schultern und geht nach Hause, gespannt, ob sein Wunsch wirklich in Erfüllung geht.
Am nächsten Tag in der Schule bemerkt Jonas, dass seine Lehrerin ihm wirklich keine Aufgaben gibt. Auch seine Mitschüler scheinen keine Hausaufgaben zu bekommen. Zunächst ist Jonas begeistert. Doch nach einigen Tagen merkt er, dass ihm etwas fehlt. Ohne die Aufgaben hat er zwar mehr freie Zeit, aber er fühlt sich auch gelangweilt und ideenlos. Er vermisst die Herausforderungen. Im Unterricht kommt er bald nicht mehr so richtig mit, weil ihm die Übung zu Hause fehlt. Seinen Freunden und Klassenkameraden scheint es auch so zu gehen und alle fühlen sich irgendwie unwohl mit der Situation.
Jonas beginnt zu verstehen, dass sein Wunsch nicht nur seine eigenen Hausaufgaben, sondern die aller Schüler beeinflusst hat. Er fühlt sich schuldig und beschließt, zum Brunnen zurückzukehren, um seinen Wunsch rückgängig zu machen. Doch als er dort ankommt, ist der Brunnen verschwunden. An seiner Stelle steht nur ein alter Baum.
Er erinnert sich an die Geschichten, die ihm seine Großmutter erzählt hat, in denen es immer einen Weg gibt, Fehler zu korrigieren. Er schließt die Augen und konzentriert sich auf den Wunsch, alles wieder in Ordnung zu bringen.
Plötzlich hört er ein Rascheln in den Blättern über ihm. Eine kleine Eule sitzt auf einem Ast und schaut ihn an. "Du suchst den Brunnen?", fragt sie mit einer Stimme, die Jonas an das Flüstern im Brunnen erinnert. Er nickt und erzählt der Eule von seinem Wunsch und den Folgen für ihn und seine Mitschüler.
Die Eule lächelt weise. "Manchmal müssen wir die Konsequenzen unserer Wünsche verstehen, um zu erkennen, was wirklich wichtig ist", sagt sie. "Der Brunnen erscheint nur denen erneut, die bereit sind, aus ihren Fehlern zu lernen."
Jonas bedankt sich bei der Eule und verspricht, künftig sorgfältiger mit seinen Wünschen umzugehen. Es ist, als würde sich ein schwerer Vorhang vor seinen Augen lüften. Ihm wird klar, wie unbedacht sein erster Wunsch war. Es war nicht nur ein einfacher Wunsch, sondern einer, der das Leben aller negativ beeinflusste.
Er setzt sich unter den Baum, der an der Stelle des Brunnens steht und denkt nach. "Ich habe nur an mich selbst gedacht", sagt er leise. Er erkennt, dass er nicht einfach den Wunsch rückgängig machen kann, ohne Verantwortung zu übernehmen. Er muss etwas tun, um den Schaden zu korrigieren - nicht nur für sich, sondern auch für seine Mitschüler.
"Ich möchte, dass auch meine Mitschüler verstehen, wie wichtig Hausaufgaben für unser Lernen und unsere persönliche Entwicklung sind", murmelt er entschlossen.
In diesem Moment spürt er ein Vibrieren unter seinen Füßen. Die Luft wird kühler, das Rascheln der Blätter intensiver. Der Baum beginnt sich zu verändern und der Efeu zieht sich zurück. Schließlich erscheint der alte Brunnen wieder - unverändert, als ob er nie verschwunden wäre.
Jonas blickt in den Brunnen. Er schließt die Augen und spricht seinen Wunsch aus: "Ich wünsche mir, dass alle den Wert der Hausaufgaben erkennen und verstehen, warum es wichtig ist, zu lernen."
Das Wasser im Brunnen glitzert erneut und Jonas ist sich sicher, dass er den richtigen Schritt gemacht hat. Er eilt zurück nach Hause und stellt fest, dass alles wieder normal ist. Seine Lehrerin verteilt Hausaufgaben und seine Freunde sind voller Energie und neuer Ideen, auch wenn sie manchmal lieber spielen wollen, als zu lernen.
Jonas fühlt sich wieder glücklich. Er hat gelernt, dass Wünsche mächtig sind und dass es wichtig ist, sie immer mit Bedacht zu äußern.
