Kira, die kluge Krähe
Hoch oben, auf einem alten Eichenbaum lebt Kira. Sie ist eine junge Krähe mit glänzend schwarzen Federn und wachsamen Augen. Kira ist klug und neugierig. Sie liebt es, die Welt zu beobachten und neue Dinge zu entdecken. Eines Tages sieht sie etwas, das sie nicht mehr loslässt: Ein Mensch kommt den Waldweg entlang, bleibt unter einem Apfelbaum stehen und stößt mit einem langen Stock einen roten Apfel vom Ast. Der Apfel fällt zu Boden und der Mensch hebt ihn auf. Kira blinzelt erstaunt. "Er hat gar nicht fliegen müssen, um an den Apfel zu kommen!", denkt sie.
Als der Mensch verschwunden ist, fliegt sie neugierig hinunter und betrachtet den Stock. "Wenn der Mensch so an Futter kommt, dann kann ich das vielleicht auch", murmelt sie. Kira sucht sich einen kleinen, geraden Zweig und hebt ihn mit dem Schnabel auf. Dann fliegt sie zu einem alten Baumstumpf und entdeckt dort einen Käfer, der gerade in ein Loch krabbelt. Sie stochert vorsichtig mit dem Zweig hinein. Plötzlich krabbelt der Käfer heraus! Kira jubelt leise. "Es funktioniert! Ich habe ein Werkzeug gemacht!"
Kira fliegt zu einer sonnigen Lichtung, auf der sich Spatzen, Tauben und Elstern tummeln. "Kommt her! Ich habe etwas Tolles gelernt!", ruft sie aufgeregt. Die Vögel versammeln sich neugierig um sie herum. Kira nimmt den Zweig, steckt ihn in ein kleines Erdloch und jagt wieder einen Käfer heraus. Die anderen Vögel piepsen erstaunt. "Das ist ja unglaublich!", ruft ein Spatz. Kira nickt. "Mit so einem Stock kann man Futter holen, das man sonst nicht erreichen würde."
Die anderen Vögel schauen Kira neugierig an. Einige flattern näher heran, andere hüpfen unsicher zurück. Eine Elster neigt den Kopf. "Ein Stock? So etwas machen doch sonst nur Menschen!" Kira lacht krächzend. "Aber wir können das auch."
Ein junger Spatz wagt es als Erster. Er hebt einen kleinen Halm auf und steckt ihn in das Loch - aber der Halm ist zu weich und knickt sofort ab. Die Tauben gurren. "Das klappt nie!", ruft eine. Doch Kira bleibt geduldig. "Man muss den richtigen Zweig finden. Nicht zu weich und nicht zu dick."
Sie zeigt es noch einmal. Langsam und vorsichtig. Der Zweig rutscht ins Loch, sie zieht - und wieder kommt ein Käfer hervor. Diesmal staunen alle. Einige Spatzen versuchen es erneut. Eine Elster sucht sich gleich einen stärkeren Zweig und schafft es tatsächlich, eine Made aus der Rinde eines Baumstamms zu holen.
Kira freut sich. Aber sie merkt auch, dass nicht jeder Vogel Lust hat zu lernen. Die Tauben picken lieber nach Samen auf dem Boden und die Amseln ziehen Regenwürmer aus der Erde - ganz ohne Werkzeug. Das ist in Ordnung, findet Kira. "Jeder hat seine eigene Art, an Futter zu kommen", denkt sie.
In den Tagen danach übt sie weiter. Manchmal beobachtet sie sogar andere Krähen, die in der Nähe leben. Sie entdeckt, dass einige von ihnen schon ganz ähnliche Dinge tun - Zweige benutzen, Blätter formen, sogar kleine Steine in die Höhe heben, um sie fallen zu lassen und damit Nüsse zu öffnen. Kira staunt. "Vielleicht war ich gar nicht die Erste", überlegt sie. "Aber ich habe verstanden, warum es funktioniert."
Sie beobachtet aufmerksam: Wenn ein Zweig zu kurz ist, erreicht man den Käfer nicht. Wenn er zu lang ist, kann man ihn nicht gut halten. Und wenn man zu fest stochert, läuft das Insekt davon. Kira merkt, dass klug sein nicht bedeutet, sofort alles richtigzumachen - sondern genau hinzusehen und aus Fehlern zu lernen.
Eines Abends sitzt die schlaue Kira auf ihrem Ast und betrachtet ihre Sammlung aus kleinen Zweigen und Steinen. Jeder davon ist ein spezielles Werkzeug. In der Ferne ruft eine andere Krähe, und Kira antwortet. Vielleicht, denkt sie, wird auch diese Krähe morgen einen Zweig ausprobieren.
Kira weiß, dass sie nichts erfunden hat, was es nicht schon irgendwo in der Natur gab. Aber sie hat etwas Wichtiges erkannt: Wer neugierig bleibt, kann immer etwas Neues lernen - selbst in einem alten Wald, in dem alles schon entdeckt scheint.
